(publiziert auf This is Jane Wayne)
Es ist 15:30 und für einen kurzen Moment bin ich mir sicher, mich übergeben zu müssen. Das flaue Gefühl hat sich in meinem ganzen Körper niedergelegt, quetscht sich trotzig in jede noch so kleine Lücke und schaut mir mit starrem Blick entgegen. So verweilt es jetzt schon seit heute Morgen. Vor ein paar Stunden noch, da habe ich versucht, es mit Kaffee herunterzuspülen, wegzuschreiben oder zumindest zu ignorieren, mittlerweile aber habe ich aufgegeben. Die Uhr tickt und obwohl sie nicht einmal ein klitzekleines Geräusch macht, höre ich sie ganz deutlich. Ich verdecke die Uhrzeit am Computerbildschirm mit meinem rechten, zittrigen Daumen, fast so, als würde ich glauben, die Zeit damit einfach anhalten zu können.
Es ist 16:03. Der Stuhl, auf dem ich gerade Platz nahm, fühlt sich kalt an. Er muss bereits eine ganze Weile unbesetzt gewesen sein und ich frage mich, wie oft heute wohl schon jemand auf ihm gesessen hat. Womit er mir helfen könne, fragt eine freundliche, ruhige Männerstimme und reißt mich aus meinen Gedanken. Schade, denke ich, dass er ausgerechnet jetzt fragt, wo ich doch gerade darüber nachdachte, wie lange ein gewöhnlicher Stoffbezug braucht, um gespeicherte Körperwärme wieder in die Luft abzugeben. Nach einigen Sekunden beschließe ich, die Stille zu brechen, öffne meinen Mund, um jenen Satz zu sagen, den ich mir in den vergangenen 48 Stunden zurechtgelegt und fleißig geübt hatte, doch ich verstolpere mich so oft, dass es nach einer unverständlichen Stammelei klingt, die zur Krönung von einem Schwall aus Tränen erstickt wird. Mist.
Mein Gesicht fühlt sich heiß an und ich weiß, dass mir die Röte schon längst in die Wangen geschossen ist, wo sie wohl bis heute Abend bleiben wird. Das ist immer so, wenn ich geweint habe. Diese verdammte Röte setzt sich in meiner Haut fest und erinnert mich noch stundenlang an meinen Gefühlsausbruch. „Cshhhhhhh“ höre ich mich selbst ausatmen, bevor ich einen zweiten Anlauf wage und angespannt meinen eigenen Worten lausche. Der Mann vor mir nickt zustimmend. Ganz langsam und mit geschlossenen Augen. Dann schaut er mich wieder an. „Es ist schön, dass Sie sich für eine Therapie entschieden haben“, höre ich seine Stimme sagen. Mein Blick wandert von ihm auf die weiße Wand, dann zum Fenster. Merkwürdig, denke ich, dass sich die Welt da draußen einfach weiterdreht, als ob nichts wäre, ja, dass sogar die Bäume grün sind und die Sonne scheint, während ich hier oben in einem kleinen Raum mit weißen Wänden und künstlichem Licht sitze. Ich höre mich schon wieder reden, mit vielen Pausen und verschiedenen Ansätzen und ohne roten Faden, obwohl ich doch eigentlich weiß, wie wichtig ein roter Faden ist, immerhin lernt man das schon in der fünften Klasse im Deutschunterricht.
Ständig bleibt mein Blick an dieser weißen Wand kleben, während meine Worte so vor sich hin stolpern, wie Hürdenläufer, die beim Start nicht richtig vom Fleck kommen und dann bei jedem Sprung die Hürden so berühren, dass sie mit schweren Schritten über die Laufbahn taumeln. Eine Hürde sind diese Minuten allemal. Eine ganz Große sogar, von der ich lange glaubte, sie nicht noch einmal nehmen zu können, weil ich doch schon mal an ihr scheiterte, was nicht bloß an mir selbst, sondern auch an den vielen Steinen, die man mir in den Weg legte, lag. Und jetzt bin ich sogar so weit, dass ich diesem Mann mit der unfassbar ruhigen Stimme und der vielen Geduld innerhalb weniger Minuten all das gesagt habe, was sonst kaum jemand weiß, weil es eben Dinge gibt, die niemand sonst wissen muss, ja, die manchmal sogar ich selbst am liebsten gar nicht kennen würde. Es ist schon seltsam, was man einer völlig fremden Person so erzählen kann, bloß, weil man irgendwann eine Nummer wählt oder eine E-Mail schreibt und irgendeine Rezeption antwortet, dass man kommen darf, weil da ganz kurzfristig noch ein bisschen Zeit freigeworden sei.
Es ist aber eben nicht nur seltsam, sondern auch erleichternd, weil ich offen und ehrlich sein darf, nein, sogar soll, und die fremde Person vor mir trotz all des wirren Krams, den ich da rede, noch immer verständlich schaut, statt die Hände über dem Kopf zusammenzuschlagen. Nicht einmal die kurzen Fragen stören mich und am Ende stoppt sogar der Tränenschwall, was gut ist, weil mein letztes Taschentuch schon so feucht ist, dass es an sämtlichen Stellen einreißt. Ob mir ein Termin in zwei Wochen passen würde, werde ich von ihm gefragt, früher sei leider nichts frei, wegen der Feiertage. Ich nehme kaum noch wahr, mit welcher Euphorie ich den Terminvorschlag notiere, ein bisschen erschöpft, aber eben auch froh, weil ich endlich mal selbst einen meiner Ratschläge angenommen habe, statt sie nur eifrig an andere Menschen zu verteilen. Und das ist, so viel weiß ich bereits, einer der schwierigsten Momente in diesem langen Prozess, der jetzt vor mir liegt.