(publiziert auf This is Jane Wayne)
Irgendwann, ich war gerade alt genug, um eine weiterführende Schule zu besuchen, beschloss ich, dass Nadelstreifen schrecklich seien. Ich ordnete sie irgendwo zwischen unangenehmer Spießigkeit, steifen Terminen und „Muss man eben zur Bewerbung tragen“ ein und war mir sicher, sie für immer zu vermeiden. Nun ist „für immer“ natürlich ein ziemlich dramatischer Begriff, doch eine starke Überzeugung begünstig nun einmal auch ein ausgeprägtes Durchhaltevermögen. Von beidem zehrte ich viele Jahre und ließ mich nicht einmal von ersten 90s-Comebacks ablenken, was, wenn ich so recht überlege, wohl bereits von einer großen Willensstärke zeugte.
Ich war Mitte 20, als meine Überzeugung zum ersten Mal ins Wanken geriet. Natürlich passierte es ganz heimlich, immer dann, wenn niemand schaute. Das ist oft so, wenn man zuvor viele Jahre lang lauthals kundtut, was genau man alles so furchtbar findet oder welche Dinge „gar nicht geh’n“. Vor lauter Scham über das eigene Falschliegen ergötzt man sich nur dann an der ungeahnten Neuentdeckung, wenn man alleine, wirklich ganz alleine, ist. Bloß um dann festzustellen, dass besagte Sache in Wahrheit sehr wohl „geht“. In meinem Fall lief die Heimlichtuerei in etwa wie folgt ab: Schritt 1) abendliche Schaufenstertouren durch alle erdenklichen Online-Shops, Schritt 2) obsessives Speichern von inspirierenden Bildern, Schritt 3) ein gedankliches Zusammenstellen verschiedener Outfits mit einem Kleidungsstück, das ich gar nicht besaß (Nadelstreifen-Blazer x Jeans, Nadelstreifen-Blazer x Maxikleid, Nadelstreifen-Blazer x gestrickte Unterhose).
Was, um Himmels Willen, ich mit solch einem Blazer überhaupt ausdrücken wollte („Hallo, ich wäre jetzt doch gerne spießig“ oder „Schaut her, ich trage Nadelstreifen auf eine ironische Weise“?), wusste ich selbst nicht so genau, an meiner Entscheidung gab es aber dennoch nichts mehr zu rütteln: Ich brauchte einen Nadelstreifen-Blazer.
Mindestens so lässig wie das Balenciaga-Model (SS17) wollte ich fortan im Alltag aussehen, auf imaginären Hochzeiten würde ich den weit geschnittenen Anzug zu einem Strohhütchen tragen (Jacquemus SS17) und zur After-Party à la Sacai (SS17) die Schere anlegen.
Selbstbewusst und überzeugt machte ich mich auf die Suche und fand prompt, Ganni sei Dank, ein ausrangiertes Modell im Sale. Den Kopf voller Vorstellungen warf ich mir das schöne Stück über, schritt erhobenen Hauptes zum Spiegel und — nichts. Kein Feuerwerk, keine flammenden Herzen, nicht einmal ein kleiner Funke. Erschrocken stellte ich fest, dass ich leider kein bisschen lässig aussah und auch den Code nicht geknackt hatte. Nein, ich sah ganz genauso aus, wie ich es immer befürchtet hatte: langweilig. Erschrocken brachte ich den Nadelstreifen-Blazer zurück und beschloss, das Thema ein für alle Mal abzuschließen.
Natürlich kam dann doch alles anders. Wie immer, wenn ich mir verspreche, mich von Dingen fernzuhalten. Meist muss lediglich genügend Zeit vergehen, bis ich den Schrecken überwunden oder die Komplikationen vergessen habe. Manchmal bekomme ich auch einfach bloß Mitleid und werfe all meine guten Vorsätze über den Haufen.
Wir schreiben das Jahr 2021. Ich sitze an meinem Laptop und starre schon wieder auf diese verfluchten Nadelstreifen. Ich stelle gedanklich erneut Outfits mit Kleidungsstücken, die ich gar nicht besitze, zusammen (Nadelstreifen-Blazer x Maxirock, Nadelstreifen-Hose x Sommerhemd, Nadelstreifen-Kleid x Balaklava) und speichere mir obsessiv Inspirationen — Schuld daran sind die jüngsten SS22-Schauen aus New York und London. Dort trug man das Muster im fantastischen All-Over-Look (Thom Browne), als braunen Zweiteiler (Luar) oder als weit geschnittene Hose zum lockeren Hemd (Maryam Nassir Zadeh). Nichts davon sah öde aus, alles machte Sinn und erschien mir sogar ausgesprochen klug.
Beim nächtlichen Online-Schaufensterbummel landeten, sozusagen als logische Konsequenz, jüngst drei Kleidungsstücke samt Nadelstreifen-Muster in meinem Warenkorb. Nichts davon kaufte ich wirklich, ich legte sie dort nur vorsorglich ab, um sie regelmäßig betrachten zu können. Ab und zu denke ich dann über zweite Chancen nach und darüber, ob so ein Nadelstreifen-Stück sie wirklich verdient hätte. Oft klappe ich den Laptop schnell wieder zu und schiebe ihn möglichst weit weg, um ja nicht in Versuchung zu kommen, doch noch auf BUY NOW zu klicken. Manchmal ist es eben sicherer, schöne Dinge bloß aus der Entfernung zu betrachten − selbst dann, wenn man sich die letzten Zweifel in stundenlangen Selbstgesprächen erfolgreich schöngeredet hat.