(erschienen auf This is Jane Wayne)
Banana Yoshimoto beginnt ihr Buch „Kitchen“ mit den Zeilen: „Der liebste Platz auf dieser Welt ist mir die Küche“ und spricht damit gleichermaßen gut sortierte, als auch von Chaos umgebene Küchen an. Eine Küche nämlich, so schreibt sie (oder vielmehr ihre Protagonistin), ist an jedem Ort, an dem sich das Leben abspielt und erzählt dabei ihre ganz eigene Geschichte. Im besten Fall lädt sie zum Verweilen ein, ganz gleich, ob es die Stimmen vieler Menschen sind, die den Raum füllen, oder bloß das Surren des Kühlschranks, das den Rhythmus des eigenen Atmens begleitet.
Eine solche Küche befindet sich auch in jenem Haus, in dem mein Vater aufwuchs und meine kroatische Oma bis in die 90er Jahre hinein stets am linken Ende einer langen Eckbank saß. Über dem rustikalen Holztisch, der beinahe einer Tafel ähnelte, hängt noch heute eine breite Lampe bestückt mit vielen Glühbirnen. All das wurde einst ein wenig zu tief aufgehängt, sodass man aufpassen muss, sich beim Aufstehen nicht jedes Mal den Kopf zu stoßen. Um die Tischoberfläche vor all dem Olivenöl, Bratfett und selbst gemachten Rotwein zu schützen, lag eine karierte Plastiktischdecke aus — ein wenig vergilbt war sie nach all den Jahren, keine Frage, doch in Anbetracht des Ungeschicks der fünf Kinder, die während der Sommerferien auf dem Dorf waren und zum Abendessen kamen, noch immer genauso praktisch wie zu Beginn. Es war eine gemütliche Küche. Eine, in der ich gerne saß, weil ich mir während des Essens all die Schätze, die sich in der dunkelbraunen, vollgestopften Vitrine türmten, anschauen konnte. Manch eine*r hätte sie wohl als „urig“ beschrieben.
Überhaupt durfte ich im Laufe der Jahre so einige Blicke in schöne Küchen werfen und mich an ihrer Gemütlichkeit erfreuen. Im Haus meiner norddeutschen Oma füllte etwa ein Holzofen die Luft mit seiner Wärme, in den Ecken der Arbeitsflächen standen Töpfe mit kleinen Obst- und Blumenmotiven und wenn man kochte, blockierte man stets den Eingang zum Flur. Ein Mann Mitte 30 wiederum verkaufte einst nicht bloß seinen Küchentisch über Ebay Kleinanzeigen, jede Menge Geschichten von Spiele-Abenden und lautem Gelächter gab es obendrein: Die Holzoberfläche kannte sie alle und war dabei ein solches Unikat, dass sich der Verkäufer kurzerhand entschied, den Tisch noch ein wenig länger zu behalten. Vermutlich hätte es keine dieser Küchen je in eines der renommierten Interior-Design-Magazine geschafft, dafür waren sie nun einmal zu vollgestopft, zu chaotisch, zu gegensätzlich. Es fehlten die durchgestylten Küchenschränke und auch die Arbeitsplatten glänzten nicht durch hochpolierten Marmor. Vielmehr waren sie abgenutzt, fleckig und vollgestellt — sie waren nun einmal auf ihre Weise schön. Vielleicht, weil sie suggerierten, hier würde wirklich gelebt, und jede*r sei willkommen, um einen ganz eigenen Teil zur nächsten Geschichte beizutragen.
Dass auch meine Küche künftig ein Ort dieser ehrlichen Gemütlichkeit werden soll, beschloss ich schließlich nicht nur mit dem Kauf eines gebrauchten Küchentischs, sondern auch mit Beginn der Pandemie: Ganz plötzlich wurde sie nämlich zu einem Raum, in dem ich mich nicht mehr nur zum Kochen oder Kaffeebrühen aufhielt, sie wurde sowohl Ruhepol als auch Ort des Zusammenseins, beherbergte neuerdings lange Abende mitsamt Wein und Phase 10, frühe Morgen gefüllt mit heißem Kaffeedampf und einem Buch. An meine leere Wand wünsche ich mir ein vollgestelltes Regal inklusive Pflanzen, unterschiedlichen Tassen, halbgefüllten Flaschen und Kleinigkeiten, die man sonst so gerne in Schubladen versteckt, um sich selbst und anderen eine Aufgeräumtheit, die sich doch eigentlich vielmehr in Kälte hüllt, vorzugaukeln. Auf meinem Holztisch stelle ich mir zuweilen eine rot-weiß karierte Tischdecke wie beim Lieblingsitaliener um die Ecke vor, weil sie Wärme ausstrahlt und eben doch vor so manchen unliebsamen Flecken schützt. Ich wünsche mir eine Küche, in die ich mich auf den ersten Blick so verliebe, wie es Banana Yoshimotos Protagonistin in Kitchen tut. Eben eine, die herzlich ist und warm, weil es einmal mehr darum geht, gemeinsam Geschichten zu schreiben und zu erzählen — und das funktioniert in meinen Augen nun einmal am besten, wenn es laut und wild und chaotisch ist.
„Auch wenn auf den ersten Blick alles ein klein wenig bunt zusammengewürfelt erschien, so war doch alles von auserlesener Qualität. Es gab sogar recht ausgefallenes Geschirr… zum Beispiel Schüsseln für spezielle Reisgerichte, feuerfeste Teller für Gratins, gewaltige Anrichteplatten, Bierkrüge mit Deckel. Irgendwie fand ich das toll. […] Immer wieder musste ich anerkennend nicken, während ich um mich sah. Es war eine gute Küche. Ich war verliebt auf den ersten Blick.“ (Banana Yoshimoto, Kitchen).